Im Vergleich zu 2018 befinden sich 2,6 % mehr wohnungslose
Menschen in einer schlechten oder sehr schlechten Lebenslage, so die Ergebnisse einer für die Diakonischen Einrichtungen Deutschlands repräsentativen systematischen Lebenslagenuntersuchung wohnungsloser Menschen. Die Studie wird vom Evangelischen Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe e.V. (EBET) gemeinsam mit der Diakonie Deutschland veröffentlicht und wurde von der Alice Salomon Hochschule (ASH Berlin) durchgeführt.
Befragt wurden knapp 1.000 akut wohnungslose erwachsene Menschen in 69 Einrichtungen der Diakonischen Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe in Deutschland – u.a. ambulante Dienste, Beratungsstellen und Notübernachtungen.
Dr. Jens Rannenberg, Vorsitzender des EBET: „Wohnungslose Menschen gehören zu den verletzlichsten Gruppen in unserer Gesellschaft. Als besonders gefährdend zeigte sich in den letzten zwei Jahren die gesundheitliche Situation. Die Ergebnisse der Studie stützen unsere Forderung, wohnungslosen Menschen angemessene Unterkünfte anzubieten, erst recht in Pandemiezeiten. Wohnungslose Menschen brauchen möglichst schnell eine Wohnung, einen dauerhaften, mietrechtlich abgesicherten Wohnraum. Dafür setzen wir uns in Diakonie und als EBET ein.“
Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik Diakonie Deutschland: „Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Menschen ohne Wohnung massiv in ihren Grundrechten eingeschränkt leben. Das Problem des fehlenden Wohnraums muss dringend angegangen werden. Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass beim sozialen Wohnungsbau auch wohnungslose Menschen zum Zug kommen und dafür eine entsprechende Anzahl an Wohnungen vorsehen. Wir brauchen deshalb Quotierungen für wohnungslose Menschen beim sozialen
Wohnungsbau.“
Professorin Susanne Gerull, ASH Berlin: „Die persönliche und gesundheitliche Sicherheit ist nach unserer Studie zentral für die Lebenslage wohnungsloser Menschen. Der Gesundheitszustand spielt im Leben der Befragten in diesen unsicheren Zeiten eine deutlich wichtigere Rolle als 2018. Die Wohnungsnotfallhilfe ist aufgerufen, auf der Grundlage der festgestellten objektiven Lebenssituation sowie den eigenen Einschätzungen der Hilfesuchenden adäquate Angebote der Unterstützung zu machen.“
Laut Studie lebt knapp jede:r neunte Befragte auf der Straße, in einem Zelt, Wohnmobil oder in einem Abrisshaus. Weniger als die Hälfte von ihnen (45,5 %) erhält staatliche Sozialleistungen, 43,6 % verfügen über kein Geld. Straßenwohnungslosigkeit kann der Studie zufolge als existenzielle Armutssituation betrachtet werden, die sich gegenüber der ersten Untersuchung 2018 noch einmal verschlechtert hat. Dies wird im Zusammenhang gesehen mit der Verringerung von niedrigschwelligen Angeboten z.B. in Tagesaufenthalten
aufgrund der Pandemie und entsprechenden Hygienevorgaben. Der größte Teil dieser Menschen schätzt die eigene gesundheitliche Situation überwiegend als schlecht oder sehr schlecht ein (41,6 %), fast drei Fünftel der straßenwohnungslosen Menschen (58,4 %) erlebten in den vorangegangenen sechs Monaten mindestens einmal monatlich bedrohliche Situationen.
Besonders prekär ist auch die Situation von EU-Bürger:innen, deren Einkommen durchweg niedriger ist als das Deutscher. Sie leben häufiger auf der Straße oder in Notübernachtungen, haben seltener Zugang zu medizinischer Versorgung und erleben mehr bedrohliche Situationen.
Dr. Jens Rannenberg: „Wohnungslose Menschen sollten nicht in Notunterkünften oder lediglich vorübergehend untergebracht werden, sondern unbefristet mit eigenem Mietvertrag Wohnraum erhalten. Dazu sollte Housing First stärker als bisher gefördert werden. Schließlich ist auch die Prävention von Wohnungsverlusten sehr wichtig, gerade in Zeiten rasant steigender Kosten für Strom und Heizung, die einkommensarme Haushalte besonders treffen und im schlimmsten Fall zum Verlust der Wohnung führen können.“
In Deutschland wird die Jahresgesamtzahl wohnungsloser Menschen von der
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosigkeit (BAG W) auf 256.000 im Jahr 2020 geschätzt. Zusätzlich leben laut BAG W knapp 161.000 wohnungslose anerkannte Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften oder in dezentraler Unterbringung.
Weitere Ergebnisse der Studie:
Von den wohnungslosen Menschen, die sich 2021 an der Befragung beteiligten, waren knapp zwei Drittel (62,3 %) ein Jahr und länger wohnungslos. Die meisten Befragten gibt es in der Altersgruppe zwischen 30 und 59 Jahren (62,7 %). 60 Jahre und älter sind ein Fünftel (20,4 %). Drei Viertel der Befragten sind Männer (77,2 %), vier Fünftel Deutsche (79,0 %) und 12 % stammen aus sonstigen EU-Ländern.
Zur Methodik der Studie:
Befragt wurden wohnungslose Menschen in 69 Einrichtungen und Diensten in Deutschland. Dazu gehören ambulante Dienste und stationäre Angebote, Beratungsstellen, Tagesstätten, spezifische Einrichtungen für EU-Bürger:innen und Frauen, Angebote der medizinischen Versorgung, Notübernachtungen, Streetwork-Projekte sowie Angebote der Straffälligenhilfe. Gefragt wurde in zehn Sprachen. Neben dem deutschsprachigen Fragebogen wurden vor allem die rumänischen, polnischen, englischen und bulgarischen Übersetzungen genutzt. Insgesamt wurden 946 Fragebogen ausgewertet. Folgende sechs Lebenslagenbereiche wurden abgefragt: Materielle Situation, Erwerbsarbeit, Wohnen, Gesundheit, Sicherheit und Partizipation/Soziale Netzwerke. Dabei sollten die Befragten auch eine subjektive Einschätzung zu ihrer Lebenssituation angeben. Nicht befragt werden konnten wohnungslose Menschen ohne Anbindung an das Hilfesystem.
24.03.2022